Im Bereich der Bildenden Kunst und – erweitert – der Kultur, wo das Bewahren wenig gilt (außer in den Stereotypen der Sonntagsreden), die Erneuerung, oft auch nur die Neuigkeit, die kontroverse Diskussion und Infragestellung aber stetes Selbstverständnis und auch Aufgabe der Künstler ist, braucht es Raum und Forum zur Diskussion, Validierung und auch zum Streit. Kunstmessen, von ihrem Charakter der Vermarktung und damit dem aktuellen Kunstgeschmack verpflichtet, können diese Aufgabe nur ungenügend wahrnehmen. Kuratierte Veranstaltungen, Biennalen, Landeskunstschauen sind von der Aufgabe, den herrschenden Kunstgeschmack der Konsumenten abzubilden, befreit, und bieten daher den passenden Raum, in dem die Diskussionen zum Stand der Kultur geleistet werden können. Dass diese Veranstaltungen meist in einem mehrjährigen Rhythmus stattfinden, ist sinnvoll und angemessen und schafft auch die notwendige Distanz zum Tagesgeschäft. Eines dieser weithin beachteten Ereignisse ist sicher die seit 1955 im 5-jährigen Turnus stattfindende Dokumenta in Kassel.
Kritik bis zum Skandal war immer ein Begleiter der international beachteten Schau. Im Rahmen der selbst gestellten Aufgabe ist das nicht nur unvermeidlich, sondern auch sinnvoll und notwendig. Massive Kritik können wir auch dieses mal wieder erleben – nicht nur aus von Kulturschaffenden, sondern ebenso auch von Politikern, die bisher wenig durch ihr kulturelles Engagement auffielen. In einem – zugegebenermaßen eher zufällig zusammengestellten - Pressespiegel soll hier eine Momentaufnahme zum Stand der Diskussion versucht werden.
Die Zeit - 28.7.22:
"Die Leitung der documenta tut weiter so, als ginge sie das nichts an"
Der Zentralrat der Juden sieht die Verantwortung für die neuen Antisemitismus-Vorwürfe auch beim neuen documenta-Leiter. Die FDP fordert einen Abbruch der Kasseler Schau.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, erhebt schwere Vorwürfe gegen die neue documenta-Leitung. Seit Wochen diskutiere das Land über Antisemitismus, die anti-israelische Boykottbewegung BDS und Israelhass. "Die Leitung der documenta tut weiter so, als ginge sie das nichts an. Offensichtlich ist es unerheblich, wer dort die Geschäftsführung innehat", sagte Schuster laut einer Mitteilung.
Alexander Farenholtz: "Ohne zusätzliche unangenehme Nebengeräusche"
Antisemitismus auf der documenta: Die Gesellschaft hat geantwortet
Schuster zielt damit auf Alexander Farenholtz, der vor Kurzem als Interimsgeschäftsführer bestellt worden war und damit die Nachfolge von documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann angetreten hatte; Schormann war zuvor zurückgetreten. "Auch Herr Farenholtz selbst konnte oder wollte keinen Antisemitismus erkennen", so Schuster.
"Das Schweigen der Verantwortlichen in der Kulturpolitik ist dröhnend"
Zuvor waren neue Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta fifteen aufgekommen. Nach Angaben der beiden Gesellschafter der Schau – die Stadt Kassel und das Land Hessen – war die documenta-Leitung vor drei Wochen von einer Besucherin auf das Faksimile der Broschüre Presence des Femmes und die darin enthaltenen Zeichnungen des Künstlers Burhan Karkoutly mit Darstellungen israelischer Soldaten aufmerksam gemacht worden.
Der jüdische Verein Werteinitiative hatte bereits am Dienstag Fotos von Zeichnungen veröffentlicht, die judenfeindliche Stereotype in der Darstellung von israelischen Soldaten aufweisen. In einer Darstellung ist ein israelischer Soldat zu sehen, wie er einen Jungen ins Ohr kneift – der Soldat ist gezeichnet im Stile eines Roboters; im Hintergrund ist ein Massengrab zu sehen. Eine andere Zeichnung zeigt eine Frau, die einem Soldaten zwischen die Beine tritt. Der Mann mit Davidstern auf dem Helm krümmt sich vor Schmerz – und ist durch geringe Körpergröße sowie eine große Hakennase gekennzeichnet.
Man müsse sich fragen, "wie weit wir in Deutschland sind, wenn diese Bilder als vermeintliche 'Israelkritik' für gut befunden werden können", sagte Schuster dazu. Das Schweigen der Verantwortlichen in der Kulturpolitik hierzu sei dröhnend. "Diese documenta wird als antisemitische Kunstschau in die Geschichte eingehen." Selbst die Worte des Bundespräsidenten bei der Eröffnung hätten offensichtlich zu keiner Einsicht geführt. "Dass diese documenta wirklich bis zum 25. September laufen kann, erscheint kaum mehr vorstellbar", sagte Schuster.
"Die documenta muss sofort unterbrochen werden"
Deutlicher wird hier die FDP. Sie forderte einen vorläufigen Stopp der Veranstaltung. "Die neuerlichen Antisemitismus-Vorwürfe offenbaren einen Abgrund. Die documenta muss sofort unterbrochen werden", sagte der Generalsekretär der Liberalen, Bijan Djir-Sarai.
Bereits zu Beginn der Kunstausstellung hatten die Verantwortlichen ein Werk mit antisemitischen Darstellungen abgehängt – allerdings erst nach massiver Kritik. Das Werk des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi zeigt unter anderem einen Mann mit Schweinsnase, einem Halstuch mit Davidstern und einem Helm mit der Aufschrift "Mossad". Zudem war dort ein Mann mit Schläfenlocken abgebildet, dessen Hut offenbar mit einer SS-Rune bestückt war.
(Juli 2022, ZEIT ONLINE, DPA, jsp 82
documenta fifteen: Josef Schuster im Mai 2022)
Die "Kunstzeitung – Verlag Lindinger & Schmid Juni / Juli 2022: "Die documenta als Aktivistencamp" - Der überdehnte Kunstbegriff von ruangrupa:
Ohne Umschweife: Diese seit wenigen Tagen laufende documenta, die fünfzehnte seit 1955, macht dem Kunstwerk den Garaus. Was jahrzehntelang unvorstellbar war, ist jetzt in Kassel ernüchternde Wirklichkeit geworden – und kann bis zum 25. September als Schadensfall besichtigt werden. Ja, besichtigt, denn es kann sich niemand einbilden, dass man mit einem 27-Euro-Tagesticket auch nur ansatzweise selbst erfahren kann, was das neunköpfige Kuratoren-Team aus Indonesien, ruangrupa, mit seinem lumbung-Konzept erreichen will.
Die heimatliche Reisscheunen-Idee, dem Teilen von Ressourcen gewidmet, kombiniert mit zeitgemäß angesagten Nachhaltigkeitsprinzipien, hat zwar per Schneeballsystem zur documenta-Einladung von rund 1 500 Mitwirkenden geführt, doch die überwiegend in Kollektiven organisierten Weltverbesserer sind wohl meist keine Künstler. ...
Das Kunstwerk, so vermittelt die d 15, hat ausgedient. Zwar gibt es das Gemälde noch, auch die Form der Ausstellung, sofern her-
ausragende Künstlerinnen wie Tania Bruguera (bei Instar) oder Hito Steyerl (bei Inland) bescheiden in den Kollektiven mitmischen, doch alles in allem: Jede Koch-, Skater- oder Wickelstellescheint für ruangrupa mehr Kunst zu sein als ein Bild an der Wand.
(Karlheinz Schmid)
Der Spiegel, 23.7.22 Seite108
im Spiegel Interview mit dem Soziologen Natan Sznaider antwortet dieser auf die Frage, ob er das Bild "People´s Justice gesehen hätte: "Ich kam leider zwei Stunden zu spät. Es war schon verhüllt. Ich wäre am liebsten zum Gerüst gerannt und hätte die Plane heruntergerissen. Das Bild hätte hängen bleiben müssen." ... "weil es viel über die Verbreitung antisemitischer Klischees hätte zeigen können ...
kunst:art, Juli 2022 - Mathias Fritsche
Kaum gestartet, hat die neueste Ausgabe der Documenta einen veritablen Skandal. Was zuerst mit dem Vorwurf der einseitigen Sicht auf den Nahost-Konflikt begann, gipfelte nun in eindeutig antisemitischen Darstellungen. Doch dieser Skandal, klassisch verzögert durch die Schritte des Runterspielens, Relativierens, Abhängens und erst dann des Abbaus, ist nur ein Symptom. Denn ganz grundsätzlich sollte über die zukünftige Ausrichtung der Dokumenta nachgedacht werden. ...
Es ist, gut siebzig Jahre nach der ersten Documenta an der Zeit, dass ein dauerhaftes Konzept entwickelt wird, für das dann später kuratoren ausgewählt werden.warum nicht ein Kuratorenteam, das aus fünf Menschen aus fünf Kontinenten besteht? ... Wenn die Menschen aus aller Welt in Kassel die Kunst aller Kontinente gleichberechtigt sehen, löst diese Einfachheit vielleicht mehr Probleme und bringt die Menschen einander über Grenzen hinweg näher als komplizierteste Konzepte , die bei den Menschen nicht ankommen. ... Die Documenta hat eine Zukunft vor sich. Man muss sich nur einig werden, was man möchte. ... Auch die Rolle der Kuratoren spielt hier eine Rolle: Ist es noch zeitgemäß,dass der Kurator quasi ein "Super-Künstler" ist? Sollten nicht die Künstler und das Kunstwerk wieder mehr im Mittelpunkt stehen? Die derzeit laufende Documenta mit all ihren Problemen zeigt, dass es an der Zeit ist, sich mit der Zukunft der Documenta zu beschäftigen.
Wolf Erdel, 9.8.2022
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Auf jeden Fall lesenswert: Internationale Presseschau der Zeitschrift Monopol vom 10.8.2022
Internationale Presseschau -Was das Ausland über die Documenta denkt (Monopol - online)